Die Qual der Wahl: Wie Journalismus Expertise aus den Sozial- & Geisteswissenschaften findet

Gemeinsam mit Teams aus Philosophie und Soziologie erarbeiten RRC-Geschäftsführerin Laura Morris und Hendrik Boldt vom Science Media Center Germany in zwei „Quality Circles“ einen Leitfaden für den Journalismus.

Morgens in der Redaktionskonferenz: Eine brisante Studie ist der Zeitung zugespielt worden. Sie legt nahe, dass sich die politischen Einstellungen Jugendlicher deutlich nach rechts verschoben haben. Für die Redaktion bleibt unklar, wie die Studie zu bewerten ist – und doch müssen innerhalb kürzester Zeit wichtige Entscheidungen getroffen werden: Wie aussagekräftig ist die Studie? Soll berichtet werden? Welche Fachleute müssten gehört werden? Wenn nicht gerade ein:e Fachredakteur:in mit entsprechender Expertise vor Ort ist, kann niemand in der Redaktion diese Fragen fundiert beantworten. Genau dann braucht der Journalismus die Unterstützung von weiteren Fachleuten aus der Forschung.

Passende wissenschaftliche Expert:innen scheinen auf den ersten Blick schnell gefunden: Wer hat sich kürzlich zu einem ähnlichen Thema medial geäußert, spricht verständlich und ist Soziolog:in? Wer leitet ein thematisch ähnliches Forschungsinstitut, antwortet prompt und zuverlässig auf Medienanfragen? Google schlägt zudem noch eine viel diskutierte Sachbuchautorin vor, die klare Meinungen zur heutigen Jugend vertritt und sich auf die Wissenschaft beruft.

Aber sind diese Personen bei strenger Betrachtung wirklich im Detail in der Lage zu beurteilen, ob die Studie methodisch korrekt umgesetzt wurde? Sind sie mit dem aktuellen Forschungsstand vertraut und in der Lage, die Belastbarkeit spezieller Thesen aus der Studie zu bewerten? Und können sie wissenschaftlich fundierte Einordnungen für die Resultate liefern?

Derart passgenaue Expert:innen sind zu selten das Ergebnis der oben beschriebenen Routinen in den Redaktionen – darin sind sich die Mitglieder der Quality Circles für Soziologie und Philosophie einig. In diesen regelmäßigen Runden beraten jeweils etwa ein halbes Dutzend externe Fachvertreter:innen gemeinsam mit Mitgliedern des RRC und Journalisten des Science Media Centers darüber, wie der Journalismus besser mit und über Soziologie und Philosophie berichten kann.

Eine zentrale Erkenntnis der bisherigen Diskussionen:

Anders als in den Naturwissenschaften fehlt dem Journalismus oft ein schneller Zugang zu den Geistes- und Sozialwissenschaften, da es an klaren Kriterien zur Identifizierung von Fachleuten aus diesen Fächern mangelt.

Im Science Media Center, das sich auf die Suche nach Expertise spezialisiert hat, weiß man, dass in der Medizin beispielsweise ein Blick auf Journal-Rankings, Zitationen und den H-Index hilfreich ist für einen ersten Überblick. Forschende, die viel zitiert werden und in renommierten Journals veröffentlichen, gelten dort als Expert:in. Auf die Soziologie und Philosophie, so die einhellige Meinung in den Quality Circles, sind diese Metriken jedoch nur bedingt anwendbar.

Damit der Journalismus auch in diesen Disziplinen Expert:innen besser finden kann, ist es notwendig, deren Publikationen genauer zu bewerten – was die Sache nicht gerade erleichtert. Frühere Bewertungsversuche, wie etwa die Liste des European Reference Index for the Humanities, stießen in den betroffenen Fachdisziplinen auf erhebliche Kritik. Zitationsbasierte Rankings wie in den Publikationsdatenbanken Web of Science oder Scopus werden ebenfalls oft skeptisch betrachtet – oder zum Teil sogar gänzlich ignoriert.

Die Kritik richtet sich dabei häufig gegen die Auswirkungen solcher Rankings auf interne Entscheidungen – etwa darauf, wer wo berufen wird und wie stark interne Kommissionen sich auf diese Metriken stützen dürfen. Innerwissenschaftlich gibt es dazu Alternativen, beispielsweise können Berufungskommissionen die Publikationen selbst lesen und bewerten, um sich selbst ein fundiertes Urteil zu bilden. Diese Möglichkeit fehlt dem tagesaktuellen Journalismus jedoch.  Wenn das Fach dem Journalismus keine klaren und kohärenten Kriterien zur schnellen Einschätzung der Publikationsqualität an die Hand gibt, bleibt nur der Rückgriff auf die bisherige Logik: Es genügt dann, dass die vermeintlichen Expert:innen schnell erreichbar und medial sprechfähig sind. Im nächsten Schritt des Projektes wird daher in beiden Fächern eine großangelegte Umfrage auf den Weg gebracht.  Ziel ist es herauszufinden, wie Journalist:innen Expertise in diesen Fächern schneller und besser bewerten können und sich die Qualität von Fachpublikationen von außen einschätzen ließe. Auf Grundlage der Ergebnisse dieser Umfrage sowie der Erkenntnisse aus den Quality Circles soll schließlich ein praktischer Leitfaden für den Journalismus erarbeitet werden. Erste Ergebnisse sollen bereits im kommenden Jahr u.a. im Living Handbook des RRC sowie auf der Seite medien-doktor.de der TU Dortmund veröffentlicht werden.