Bis 2015 hat er als „Professor Holger“ noch regelmäßig Wissenschaftsfragen auf WDR-1Live beantwortet, jetzt analysiert RRC-Mitglied Holger Wormer in unserem Blog sowie im Berliner Tagesspiegel regelmäßig Interessantes, Seltsames und manchmal sogar Absonderliches aus der Welt der Wissenschaftskommunikation.
Eine Arztpraxis der 1990er Jahre: Ob man etwas dagegen habe, wenn er rauche, fragte mich der Arzt zu Beginn meiner Untersuchung.
Die Anekdote von dieser Begegnung kam gut an in einer Zeit, in der auch in Redaktionen noch kräftig gequalmt wurde: Die Nachricht vom Arzt, der in der eigenen Praxis rauchte, entlastete das eigene schlechte Gesundheitsgewissen der Raucher.
In dieser Hinsicht sind Social Media womöglich das neue Rauchen. Zumindest könnte man das meinen, wenn man auf Berichte über eine jüngst erschienene Studie zur Rolle von Youtube bei der Verbreitung von Extremismus schaut. Diese wurde in manchen Medien fast so gefeiert wie einst eine entlastende Nachricht vom rauchenden Journalisten. Für einen Nachwuchsforscher war die Studie sogar „Sargnagel für die These, dass uns die Algorithmen der sozialen Medien immer radikaler machen“.
Vorsichtigere Stimmen gingen fast unter – etwa der Hinweis auf mangelnde Generalisierbarkeit der einzelnen Studie zu einer einzelnen Plattform. Zudem gibt es weiterhin gegenteilige Indizien, Zeugenaussagen von Whistleblowern und sensible Daten, die Plattformen unter Verschluss halten. Und trotzdem ein pauschaler Freispruch erster Klasse für „die sozialen Medien“ – wie kann das sein?
Eine mögliche Erklärung liefert vielleicht das Forschungsfeld der Gesundheitskommunikation. „Ego-Threat“ nennt man dort ein Phänomen, bei dem jeder sein eigenes gesundheitsschädliches Verhalten gerne verharmlost. Immerhin müsste sich etwa der Raucher ja sonst eingestehen, viele Jahre etwas falsch gemacht zu haben. Also glaubt man lieber das, was das eigene Selbstbild nicht bedroht – und nimmt dafür den Schaden für die eigene Gesundheit in Kauf.
Ganz ähnlich könnte es sich mit Nachrichten aus der Social-Media-Forschung verhalten, die das eigene Ego entlasten: Vielleicht werden sie auch deshalb so euphorisch begrüßt, weil wir alle von Social Media so abhängig sind wie der Raucher von seinen Kippen? Die Frage wäre auf jeden Fall auch eine eigene Studie wert.
Die Kolumne ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.