Von Julika Griem
Ohne Einsicht in die Binnenverhältnisse war es nicht leicht, sich in den letzten Wochen auf die aktuelle Lage an der Universität Göttingen einen Reim zu machen. Gründe und Verantwortung sind aus einer Zuschauer:innen-Perspektive schwer eindeutig zuzuschreiben. Bei allem Respekt für alle, die versucht haben, die Eskalation der Abwahl des Präsidenten Metin Tolan am 2.10.24 aufzuhalten, fällt jedoch ein Aspekt der Berichterstattung ins Auge, der sich über Göttinger Verhältnisse hinaus genauer zu betrachten lohnt.
In der als „Polykrise“1 der niedersächsischen Traditionsuniversität bezeichneten Situation wurde in vielen Kommentaren eine „Kommunikationskrise des Kommunikators“ ausgemacht. Auf dieser Linie lag z.B. auch der lokale Berichterstatter des Göttinger Tageblatts am 4.10.24: „Da ist zuallererst Metin Tolan. Er war als Hoffnungsträger vor dreieinhalb Jahren ins Amt gewählt worden – und muss als gescheiterter Uni-Präsident seinen Stuhl räumen. Der mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftskommunikator offenbarte ausgerechnet auf dem Feld der Kommunikation Schwächen. Während er in der Göttinger Stadtgesellschaft mit seinen öffentlichen Vorträgen zu James Bond oder Star Trek zu begeistern wusste, kommunizierte Tolan dann, wenn es wirklich auf jedes Wort ankam, mitunter gar nicht oder zu wenig.“2
Was hier zu einem Spannungsbogen von Aufbruch zu Absturz verdichtet wird, zieht sich in der Kommentierung des wissenschaftspolitisch gut vernetzten Bloggers Jan-Martin Wiarda über einen längeren Zeitraum. Dieser gewährte der in Göttingen nach mehrjähriger Unruhe erhofften Führungsfigur Bewährungszeit, blieb dabei aber – wie die im Folgenden gefetteten Formulierungen zeigen – leitmotivisch verblüffend konsistent. Am 28.1.2021 bewertete Wiarda die Wahl Tolans als „Beleg, dass die Wissenschaftskommunikation zur Schlüsselqualifikation in der Wissenschaft wird“.3 Ein Blog-Eintrag vom 17.4.2023 greift die von vielen genutzten Versatzstücke wieder auf: „Tolan galt bei seiner Wahl als begnadeter Kommunikator. Der Physiker hat neben seiner Forschung populärwissenschaftliche Sachbücher geschrieben und hielt sehr erfolgreiche und humoristische Vorträge unter anderem zur Physik des Fußballs, der Physik bei Star Trek oder bei James Bond.“4 Nach der Abwahl anderthalb Jahre später wechselt Wiarda vorsichtig in Konjunktiv und Konditional, bleibt jedoch bei den bewährten Formulierungen: „Und tatsächlich schien man in Metin Tolan die ideale Verkörperung dieses Neuanfangs gefunden zu haben: ein anerkannter Forscher, ausgezeichnet von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, ein erfahrener Hochschulmanager nach zwölf Jahren Prorektorat an der TU Dortmund und – vielleicht am wichtigsten – ein begnadeter Wissenschaftskommunikator.“ „Neben seiner Forschung zum Verhalten von Grenzflächen so genannter ‘weicher Materie‘ (Polymere, Flüssigkeiten oder Biomaterialien) schrieb Tolan populärwissenschaftliche Sachbücher und hielt erfolgreiche und humoristische Vorträge zur Physik des Fußballs, der Physik bei Star Trek oder bei James Bond. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Stifterverband hatten ihn für sein Engagement mit dem Communicator-Preis geehrt.“ Schließlich zitierte sich Wiarda noch einmal selbst: „‘Gut zwei Jahre nach seinem Amtsantritt befand sich der vermeintlich so begnadete Kommunikator Tolan selbst in einer Göttinger Kommunikationskrise, die zumindest von ihrer Absurdität her die vergangenen in den Schatten stellen könnte‘, kommentierte ich im April 2023 hier im Blog.“5
Die insistierende Gleichsetzung von Kommunikations- und Leitungskompetenz prägt bereits das Interview, das Wiarda mit Tolan 2021 direkt nach dessen Wahl führte. Das Thema der Wissenschaftskommunikation wird hier durch ein Crescendo von vier Fragen hervorgehoben: „Welche Bedeutung hat es für die Universität, dass mit Ihnen ein erfahrener Wissenschaftskommunikator ihr Präsident wird?“ „Bedeutet Ihre Berufung auch eine Aufwertung für die Wissenschaftskommunikation insgesamt?“ „War das vor zehn Jahren noch anders?“ „Die Botschaft an junge Wissenschaftler lautet also: Engagiert euch in der Wissenschaftskommunikation, damit begeht ihr keinen Karriere-Selbstmord mehr?“ Der Frischgewählte bestätigt: „Tatsächlich halte ich eine offene Kommunikation für eine Schlüsselqualifikation im Amt einer Unipräsidentin oder eines Unipräsidenten.“ Und antwortet ganz im Geiste der buzzwords, die das BMBF im selben Jahr mit großem Aufwand in die diskursive Auflaufform der „FactoryWisskomm“ geschichtet hatte: „Dass die Wissenschaft offen und auf Augenhöhe mit der Gesellschaft kommuniziert, war noch nie so wichtig wie heute.“ „Nur indem die Wissenschaft sich öffnet, kann sie auch einem Trend entgegenwirken, der parallel zur zunehmenden Wissenschaftskommunikation abläuft: die Zunahme der Wissenschaftsfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung.“ „Auf Fachkonferenzen werden die wissenschaftlichen Vorträge immer klarer, die Leute werden dafür eigens geschult. Das gab es früher gar nicht. Heute ist es Teil der Qualifikation, gut über Wissenschaft kommunizieren zu können – und ist insofern eindeutig karriereförderlich.“
Obwohl Interviews von Nachfragen oder gar Dissens profitieren, sind sich Wiarda und Tolan einig. Im Einklang mit der bereits 2021 grassierenden Hypostasierung von Wissenschaftskommunikation durch eine zunehmend ratlose Wissenschaftspolitik auf der Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner in polarisierenden Zeiten6 wird auch im Interview alles in einen Topf geworfen und suggestiv verknüpft: Die mit dem Communicator-Preis der DFG gekrönten „launigen“ Vorträge (Tolans eigene Wortwahl) über die Physik bei Star Trek und James Bond sollen dann nicht nur bei der Leitung einer Universität helfen, sondern auch Wissenschaftsfeindlichkeit bekämpfen und sogar zu einer Neugestaltung akademischer Karrieren führen. Solche Kurzschlüsse verharren allerdings im magischen Denken. Sie setzen sich als fröhlicher pep talk über kategoriale Unterschiede und systematische Unvereinbarkeiten zwischen Ebenen und Rollen, Funktionalitäten und Kontexten hinweg. Einkassiert werden damit grundlegende Unterschiede allein schon zwischen drei Dimensionen von Wissenschaftskommunikation: Die fachwissenschaftliche Kommunikation etwa auf Tagungen, die popularisierende Ansprache heterogener Laienpublika, und schließlich die institutionelle Kommunikation innerhalb der Universität folgen jeweils eigenen Logiken und Dynamiken. Sie lassen sich daher eben gerade nicht in eine schlampig geknüpfte Kausalkette guter Absichten einreihen. Ganz im Sinne dieser notwendigen Unterscheidungen wird der Communicator-Preis der DFG dezidiert nicht für kommunikative Leistungen im Bereich von organisationaler Governance und Führung, für das Kommunizieren mit universitären Gremien verliehen.7 Und mit Blick auf die Verbesserung von Karrierechancen empfiehlt es sich, die kommunikative Professionalisierung auf eine solide Grundlage von wissenschaftlichem Wissen über Wissenschaftskommunikation zu stellen, bevor man verkündet, die neue Leistungsdimension werde bereits belohnt, ohne andere Ressourcen zu kannibalisieren.
An diesem Punkt fällt die wiederkehrende Phrase vom „begnadeten Kommunikator“ noch einmal ins Auge. Um welche Gnade geht es hier eigentlich – eine der späteren oder früheren Geburt mit Blick auf sich stetig differenzierende und erweiternde Leistungsanforderungen für jüngere Forschende? Um eine Vorstellung der schwer vorhersehbaren, glücklichen Zuteilung von Temperament, Talent und Renommee, mit der in früheren Zeiten Intuition und hemdsärmeliger kommunikativer Einsatz frei von belastbaren Qualitätskriterien belohnt wurden, weil das Thema Wissenschaftskommunikation überhaupt erst zu einer Agenda geformt werden musste? Oder schließlich um Wissen und Können, das man sich auf der Grundlage von Forschung über Wissenschaftskommunikation systematisch und reflektiert aneignen durfte? Gerade diese Fragen wären zu beantworten, wenn sich das Engagement für Wissenschaftskommunikation tatsächlich lohnen soll.
Die gegenwärtige Göttinger „Polykrise“, in deren Zentrum angeblich die Krise eines „begnadeten Kommunikators“ steht, ist offensichtlich weder mit Physik noch mit den Waffen von Captain Kirk oder 007 zu bearbeiten. Und magisches Denken grassiert auch dort, wo man glaubt, Krisen mit Hilfe von Leitfäden zur Krisenkommunikation zu vermeiden oder umgehen zu können. Als pragmatischer und Orientierungsrahmen unter aktuellem Konflikt- und Handlungsdruck helfen diese weiter – doch vor neuen Krisen schützen sie nicht.8 Dies liegt in der Sache unserer Selbstverpflichtung, Universitäten und Hochschulen als Orte offener, und damit nicht instrumentell zu domestizierender Diskursivität zu erhalten. Daher ist mindestens dem folgenden Satz Metin Tolans aus seinem Interview nach seiner Wahl 2021 immer noch zuzustimmen: „Das, was in Göttingen passiert ist, ist so außergewöhnlich nicht.“9
Dem verdienstvollen Blogger Jan-Martin Wiarda gebührt Respekt. Er offeriert hilfreiche Recherchen auf der Grundlage eines Geschäftsmodells wissenschaftspolitischer Kommunikation, das seinen Resonanzraum unter stetigem Produktions- und Nachfragedruck sichern muss. Eine gewisse Redundanz der Kommunikation ist hierbei notwendig zur Bewirtschaftung von Aufmerksamkeitsspannen. Der Wortschöpfer des „begnadeten Kommunikators“ ist damit in bester medialer Gesellschaft. Der Rückgriff auf Bekanntes und Bewährtes – auf eingefräste frames, narratives und wiederkehrende talking heads, auf Rudolf Korte und Steffen Mau in Endlosschleife – dominiert die Thematisierung von Wissenschaft, die sich dem Glauben verschrieben hat, nur Wiedererkennbares erzeuge messbare Wirkung und damit Wirkungsmacht. Auf Heldenreise also zurück in die Zukunft, Physik mit Star Trek und James Bond? Wiedersehen macht Freude, aber vielleicht entsteht ja die Chemie von Erkenntnis auch ohne Feuerzangenbowle.
Mit Blick auf das, was auch jenseits von Göttingen schiefgeht und schiefgehen kann: Wie jüngste Kürzungsoptionen vermuten lassen,10 wird das Konsens-Gnadenbrot „Wisskomm“ der taumelnden Ampel-Koalition keine substantielle Wegzehrung mehr liefern. Es reicht nicht aus, den Diskurs auf Umluft zu schalten, um die halbgaren Kurzschlüsse zur Relevanz von Kommunikation auf Webseiten, in mission statements und Strategiepapieren zu konservieren. Ja, und nicht überraschenderweise: Kommunikation ist eine zentrale Herausforderung für die Leitung einer Universität. Ihr gerecht zu werden erfordert allerdings ein analytisch fundiertes Verständnis, wie organisationale und institutionelle Kommunikation im Wissenschaftssystem unter den medialen Bedingungen eines digitalisierten Kapitalismus ohne Scheuklappen verkörpert, gestaltet und erklärt werden kann.
- https://www.jmwiarda.de/2024/10/02/das-letzte-mittel/ (abgerufen am 4.10.2024). ↩︎
- https://www.goettinger-tageblatt.de/beruf-und-bildung/regional/uni-goettingen-metin-tolan-abgewaehlt-es-gibt-nur-verlierer-P4A4GPIJDJFMTMCMITTB4IW4TM.html (abgerufen am 4.10.2024). ↩︎
- https://www.jmwiarda.de/2021/01/28/das-was-in-göttingen-passiert-ist-ist-so-außergewöhnlich-nicht/ (abgerufen am 4.10.2024). ↩︎
- https://www.jmwiarda.de/2023/04/17/die-kommunikationskrise-des-kommunikators/ (abgerufen am 4.10.2024). ↩︎
- https://www.jmwiarda.de/2024/10/02/das-letzte-mittel/ (abgerufen am 4.10.24). ↩︎
- Vgl. dazu den im März diesen Jahres formulierte Antrag der Ampel-Koalition. Er kann samt der Dokumentation der Debatte im Bundestag unter diesem Link eingesehen werden: https://dip.bundestag.de/vorgang/wissenschaftskommunikation-systematisch-und-umfassend-stärken/309720 (abgerufen am 6.10.24). ↩︎
- Nachzulesen unter https://www.dfg.de/de/gefoerderte-projekte/preistraeger-innen/communicator-preis (zuletzt abgerufen am 6.10.24). ↩︎
- Die HRK berücksichtigt dies auf vorbildliche Weise in ihrem 2022 veröffentlichten Papier zu „Hochschulkommunikation als strategische Aufgabe“, das auch Hilfreiches zur Bearbeitung von Krisensituationen enthält: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschluesse/2022-05-10_HRK-MV-Empfehlung_Hochschulkommunikation.pdf (abgerufen am 6.10.24). ↩︎
- Als ein möglicher Vergleichsfall böte sich z.B. der Rücktritt der Präsidentin der Universität Kiel im Februar 2024 an, mit dem ebenfalls die Bedeutung von Krisenkommunikation und journalistischer Berichterstattung zu betrachten wären. Während die aktuellen Anlässe sich deutlich unterscheiden (Fulda wurde die Manipulation wissenschaftlicher Daten vorgeworfen), spielte in beiden Fällen die ExzellenzStrategie als Argument in internen Auseinandersetzungen eine wichtige Rolle. ↩︎
- https://table.media/research/news/wissenschaftskommunikation-warum-die-union-die-haushaltsplaene-des-bmbf-kritisiert/ (abgerufen am 6.10.24). ↩︎