Weltuntergang? Wie interessant!

Weite Teile der Kommunikationswissenschaften haben womöglich zu lange die desaströsen Folgen von Social Media ignoriert

Wenn Ärzte eine neue Arznei testen, „verblindet“ man sie: Die Mediziner wissen in den klinischen Studien dann nicht, welcher Patient das Medikament und wer ein Placebo bekommen hat. So soll verhindert werden, dass die Forscherinnen und Forscher aus reinem Wunschdenken einen vermeintlichen Vorteil der neuen Therapie erkennen.

Es spricht einiges dafür, dass weite Teile der Kommunikationswissenschaften lange einer ähnlichen Faszination des Neuen erlegen sind – in diesem Fall keinem neuen Heilmittel, sondern den Kommunikationsmitteln von Social Media. Risiken und Nebenwirkungen spielten in der dazugehörigen Forschung mindestens bis zur ersten Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten eine untergeordnete Rolle; zu verheißungsvoll erschien die Idee einer Demokratisierung der Medienwelt, zu verlockend waren anfängliche Social-Media-Erfolgsgeschichten wie der „Arabische Frühling“. Erst in jüngerer Zeit rückte in der Forschung die problematische und wenig soziale Nebenwirkungsseite dieser Plattformen stärker in den Fokus. Doch obwohl mit dem erneuten Amtswechsel im Weißen Haus nun Allmachtsfantasien und fragwürdige Geschäftsmodelle plattformbetreibender Tech-Milliardäre für jedermann sichtbar wurden, tun sich einige Kommunikationswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen immer noch schwer damit, ihren Forschungsgegenstand mit der nötigen Distanz zu betrachten.

Dabei muss sich das Fach die Frage gefallen lassen, ob man von den hässlichen Seiten der „neuen Medien“ nicht schon viel früher hätte wissen können; immerhin meldeten sich Klimaforscher auch nicht erst warnend zu Wort, als die Hütte schon brannte oder unter Wasser stand. Wenn Kommunikationswissenschaftler aber erforschten, mit welchen Inhalten die „User“ auf diversen Kanälen konfrontiert sind, wie groß die Wirkung von Dauer-smartphonenutzung oder das Problem der digitalen Desinformation sein würde, klangen die Ergebnisse oft eher beschwichtigend: Negative Effekte könne man nicht nachweisen, zudem beeinflussten viele weitere Faktoren das Nutzerverhalten.

Natürlich ist es richtig, dass hier fast immer mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Dennoch wäre mehr Selbstkritik angebracht. Denn um Verbreitung und gesellschaftliche Wirkung von Social Media wirklich sauber untersuchen zu können, bedarf es eigentlich der Daten der Tech-Konzerne – und die hat man kaum bekommen. Das gilt vor allem für besonders problematische Plattformbetreiber und Messengerdienste. Verließ man sich dagegen auf Forschungsergebnisse aus der eigenen, in den Anfängen noch recht gut funktionierenden Twitter-Blase, führte dies schnell zu einem Bias. Der ließ die Social-Media-Welt insgesamt viel positiver dastehen, als sie zum Beispiel von jenen beschrieben wurde, die aus den Konzernen ausgestiegen waren und auf Basis ihres Insiderwissens vor diesen warnten. Die Whistleblowerin Frances Haugen ist hierfür nur ein Beispiel.

Hinzu kommt ein generelles Missverständnis auf Empfängerseite: Wenn es wegen mangelnder Daten beispielsweise am Ende einer Studie zum Social-Media-Konsum heißt, man habe negative Folgen „nicht nachweisen“ können, nimmt das Publikum das gern als gute Nachricht wahr. Der fehlende Nachweis für einen Zusammenhang wird so interpretiert, als gäbe es diesen nicht. Tatsächlich aber gilt im Sinne des Astronomen Carl Sagan: Die Nicht-Existenz ausreichender Beweise ist umgekehrt nicht der Beweis für eine Nicht-Existenz eines Phänomens.

Auch wenn es vielen Kommunikationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die Social Media vor rund 20 Jahren freudig als neues Forschungsfeld begrüßt hatten, bis heute manchmal schwerfällt: Es wird schon im Sinne des Vorsorgeprinzips höchste Zeit, sich vom positiven Bias bei der Erforschung des einst so faszinierenden Spielzeugs zu verabschieden.

Das Fach sollte sich vielmehr an die Spitze setzen mit energischer Kritik und Vorschlägen zur Regulierung und Förderung eines gesunden Mediensystems. Einige tun dies bereits. Wer dagegen weiterhin vor allem staunend auf Effekte von Social Media schaut, erinnert schnell an die Karikatur eines Ethnologen, der bei einem Kannibalenstamm einen Menschen im Topf sitzen sieht und das vor allem „interessant“ findet – statt zu Hilfe zu eilen.


Der Beitrag ist in leicht veränderter Form zuerst in der ZEIT erschienen. Andere Kommunikationswissenschaftler stellen die bisherige oder zumindest die aktuelle Leistung des eigenen Fachs im Hinblick auf Social Media deutlich positiver dar, etwa in einer Reaktion auf diesen Beitrag. Die Frage nach der Verantwortung der öffentlichen „Kommunikationswissenschaftswissenschaftskommunikation“  in einer Demokratie“ wird auch auf der Jahrestagung der DGPuK im März 2026 an der TU Dortmund aufgegriffen werden.