Ästhetik als epistemisches Kriterium in den Sozial- & Geisteswissenschaften

Ein eineinhalbtägiger Workshop am Zentrum für Wissenschaftstheorie der Universität Münster fragte nach dem Schönen als Wahrheitskriterium in der Sozial- und geisteswissenschaftlichen Theoriebildung. Die RRC-Mitglieder Aleksandra Vujadinovic und Tobias Kreutzer diskutierten vor Ort ihre Forschungsperspektive auf das Thema mit anderen Teilnehmenden und den als Expertinnen und Experten geladenen Gästen Elena Beregow, Philipp Felsch und Moritz Klenk. Im Folgenden stellen sie ihre Tagungsnotizen vor.

Aleksandra Vujadinovic:
Was ist Theorie heute?

Da ich mich in meinem Promotionsprojekt mit der Formatierung und Kommunikation von Theorie beschäftige, galt mein Interesse an dem Workshop drei Begrifflichkeiten: Ästhetik, Theorie, und den Geistes- und Sozialwissenschaften. Wenn wir in der großen Workshop-Runde über Ästhetik sprachen, dann meinten wir oft ganz unterschiedliche Dinge – das Schöne, das Affektive, das Äußere, eine Praxis, das Denken. Elena Beregow beschrieb mit dem Konzept der Theorieatmosphäre eine ästhetische Erfahrung, die sich zwischen Autor:in, Gegenständen, Raum, Text und im Zusammenspiel mit Erfahrungen entfaltet. Die Vorstellung ihres Konzepts regte auch am zweiten Tag zur Diskussion an: Philipp Felschs gerade erst erschienenes und in der Runde vorgestelltes Buch Der Philosoph. Habermas und wir ist das Produkt zweier Besuche bei Habermas. Hätte eine andere Generation die Besuche ganz anders erfahren? Wäre eine andere Theorieatmosphäre entstanden und mit ihr auch ein ganz anderes Buch? Die Faszination für Habermas löste einerseits Begeisterung, andererseits Unbehagen aus. „Warum interessiert das Thema? Warum interessiert uns Theorie heute eigentlich immer noch?“, fragte Philipp Felsch zu Beginn des Workshops. Irgendetwas hat sich verändert, aber so ganz kommen wir in den eineinhalb Tagen noch nicht dahinter.

Die große Frage „Was ist Theorie heute?“ geht im Laufe der beiden Tage in vielen kleinen Fragen auf. Wie wird heute Theorie geschrieben? Unter welchen Bedingungen? In welchen Genres und Stilen? Wann ist Theorie ästhetisch? Wann ist sie gut lesbar ist? Über welche Art von Theorie sprechen wir eigentlich? Viele dieser Fragen lassen uns stolpern. Zum Lachen bringt uns die immer wiederkehrende Frage: „Was ist Wahrheit?“ Wir kommen auch auf Formate zu sprechen. Moritz Klenk, der am ersten Tag des Workshops einen Ausschnitt aus seinem Manuskript über das Reisen als Methode des Denkens vorgelesen hatte, kritisiert die fehlende Reflexionsebene der Soziologie und ihrer Paper-Kultur. Er ist daran interessiert, wie wir dazu kommen, etwas so zu schreiben, wie wir es schreiben. Können wir die Geistes- und Sozialwissenschaften in einen Topf werfen, wenn wir über Theorie sprechen? Braucht das soziologische Paper einen Absatz, in dem über den Schreibprozess reflektiert wird? Welche Aspekte des wissenschaftlichen Arbeitens werden in der Wissenschaftskommunikation nicht berücksichtigt? Zu welchem Zweck? Wenig Zeit, viele Fragen. Ich nehme sie mit ins RRC.

Tobias Kreutzer: Die Ästhetik der Zeitdiagnose in der Medienrezeption

Als RRC-Mitglied mit einem Arbeitsschwerpunkt zur journalistischen Thematisierung der Sozial- und Geisteswissenschaften, galt mein Interesse an dem Workshop besonders der Ästhetik jener (neuen und alten) Gesellschaftstheorien, die massenmedial noch heute verfangen. Wie die jüngere Journalismus-Forschung zeigt, werden die Sozialwissenschaften nämlich analog zu ihren innerfachlichen Methodenkulturen zwischen qualitativer und quantitativer Forschung entweder auf Basis von empirischen Einzelstudien oder großer „Zeitdiagnosen“ und ihrer Vertreter thematisiert. Für die Frage danach, welche Zeitdiagnosen und andere Großtheorien es ins Feuilleton schaffen, lieferten Elena Beregows „Theorieatmosphären“ einen denkbar fruchtbaren Zugang.

Welche Form nimmt das von Beregow beschriebene, Text, Autor:in, Sound, Pose, Stil und Inszenierung gleichermaßen umfassende, „Dazwischen“ der Atmosphäre im konkreten Fall der Zeitdiagnose in den Medien an? Welche Atmosphärenelemente sind entscheidend, damit der Journalismus der Theorie einen epistemischen Wert zuspricht? Oder werden geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien gar nicht als „wissenschaftliche“ Beiträge mit einem Wahrheitsanspruch behandelt, sondern vielmehr als Meinungsbeiträge in bester Tradition des Debattenfeuilletons?

Auch die gemeinsame Besprechung des kulturhistorischen Habermas-Portraits von Philipp Felsch verhalf mir am zweiten Workshop-Tag zu einigen spannenden Impulsen zur weiteren Bearbeitung meiner Fragen. Als jahrzehntelanger intellektueller Begleiter und Kommentator der alten BRD verkörpert Habermas wie kaum ein zweiter die Verknüpfung von autobiographischer, aber auch ideologischer und institutionalisierter Situiertheit von Theorie – mit beispielloser medialer Präsenz. Dabei versuchte er stets, seine wissenschaftlichen und politischen Beiträge klar voneinander abzugrenzen. Ein, aus Sicht der Wissenschaftskommunikationsethik beispielhaftes Vorgehen, das in der Workshop-Runde jedoch lebhaft hinterfragt und diskutiert wurde. Nur eines von vielen Beispielen für einen fruchtbaren interdisziplinären Austausch zu einem für das RRC sicherlich essenziellen Thema, aus dem ich vieles mitnehme und weiterdenken werde.


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