Von Tobias Kreutzer
In kaum einem Zusammenhang wird der Expertenbegriff so selbstverständlich ohne jeden Bezug zur Wissenschaft genutzt wie im Profifußball. Auch zur UEFA EURO 2024 ist die „Analyse“ des Spiels, der Halbzeit oder eines fragwürdigen Foul-Elfmeters durch so manchen Ex-Linksaußen fester Programmpunkt einer jeden Spielübertragung. Sollten die Ultras am Ende vielleicht doch Recht behalten, und wir erleben hier weitere Symptome einer traditions- und emotionsfeindlichen Technokratisierung des Fußballs?
Spätestens seit dem Start der 17. UEFA-Fußball-Europameisterschaft der Männer am 14. Juni 2024 gibt es in Deutschland wieder circa 80 Millionen Bundestrainer und auch -trainerinnen. Das Label „Experte“ oder „Expertin“ darf sich hingegen nur eine Handvoll auserkorener Semi-Prominenter der drei übertragenden Sendeanstalten ans Trikot heften. Die Auswahlkriterien für die Analysten der Fußballnation sind dabei, gelinde gesagt, diffus: Letztlich haben Schweinsteiger, Mertesacker, Kramer und Co. vor allem gemeinsam, dass sie mal professionell Fußball gespielt haben. Titelgewinne, Torschützenkanonen im Regal – solche Kriterien wurden in den Berufungskommissionen für die Experten-Posten offenbar nicht evaluiert.
Unabhängig von der wissenschaftssoziologisch bisher ungelösten Frage, ob ein Champions-League-Sieg und zwei Meisterschaften auf Vereinsebene sich im Karriererückblick in einen höheren h-Index übersetzen lassen als ein UEFA-Cup und die Weltmeisterschaft, ließe sich auch grundlegend fragen: Mit was für einer Art von Expertise haben wir es hier überhaupt zu tun?
In ihrem „Periodensystem der Expertisen“ bieten die Wissenschaftssoziologen Harry Collins und Robert Evans unter anderem den Begriff des Bierdeckelwissens an: Eine Form von Expertise, die eine kurze, faktische Erklärung im Untersetzerformat liefert, dabei aber jeglichen Kontext vermissen lässt. Quasi ein „Wer-wird-Millionär-Wissen“. Trotz des thematisch passenden Namens täte man den Fußball-Expert:innen damit wohl unrecht.
Im „Periodensystem der Expertisen“ liegt deren Wissensform stattdessen höchstwahrscheinlich irgendwo zwischen der Spezialistenexpertise von denen, die es selbst erlebt haben („Primary source knowledge“) und einer hier nicht im Detail bestimmbaren Form von Meta-Expertise. Diese diffuse Wissensverortung macht es nicht gerade einfacher, bei der Analysten-Auswahl auf wissenschaftliche Qualitätskriterien, Fragen von False Balance und Diversität zu achten. „Das Runde muss ins Eckige“ ist keine Wissenschaft und lässt sich somit auch schwerlich auf Leitlinien für gute Wissenschaftskommunikationspraxis festnageln.
Und wozu dann das ganze Gerede von Experten und Analysen, die Ultra-Zeitlupen und die 3D-Taktik-Simulation? Die These von der „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ (Weingart) jedenfalls dürfte vielen Fangruppierungen runtergehen wie, nun ja, Bier. Seit Jahren kritisieren Wortführer:innen der Szene die zunehmende Kommerzialisierung ihres Sports und den Verlust emotionaler und menschlicher Faktoren. Immer ausgefeiltere Videobeweise sind demnach nur ein Beispiel für die hier kritisierte Entwicklung, die man als „positivistisches Programm für den Fußball“ bezeichnen könnte.
Bahnt sich vor diesem Hintergrund nun womöglich sogar eine unheilige Allianz zwischen jenen an, die den „Faktor Mensch“ in der Wissenschaft (Wissenschaftssoziolog:innen) und im Fußball (Südtribünen-Capos) hochhalten? Das müsste mal jemand analysieren.