Angriff auf das Weltwissen – und seine Verbreitung

Manche medizinische Studien und Therapieverfahren suchen Forschende, Betroffene, die Ärzteschaft und der Journalismus womöglich bald vergeblich

Von Holger Wormer

Bibliothekare und Forschende weltweit haben derzeit eine neue Morgenroutine: Wahrscheinlich oft noch vor dem Zähneputzen geben sie Begriffe wie „diversity“, „climate crisis“ oder „gender“ in gängigen Publikationsdatenbanken ein – um zu sehen, ob die bisherigen Fachartikel zu diesen Stichworten noch in gleicher Zahl vorhanden sind wie tags zuvor. Denn nicht nur bei der Verteidigung (NATO) und Navigationssystemen (GPS), Suchmaschinen (Google) und Social Media-Kanälen (Twitter/X) hat man sich in den vergangenen Jahren zu sehr auf Dienste aus den USA verlassen. Auch das wissenschaftliche Weltwissen wird zu großen Teilen jenseits des Atlantiks eingepflegt und verwaltet. Nun droht eine beispiellose Zensur.

Die genannten Begriffe stehen auf Schwarzen Listen von Wörtern, die Präsident Trump in der Kommunikation staatlicher US-Einrichtungen nicht mehr sehen will. In vielen Fällen braucht es viel Phantasie, um das – angebliche – Problem von weiteren Wörtern auf dem Index wie „woman“, „obesity“ (also Fettleibigkeit) oder auch nur „definition“ überhaupt zu erahnen. Besonders hart könnte von einer Zensur das Wissen aus medizinischen Studien betroffen sein. Denn die wichtigste medizinische Literaturdatenbank www.pubmed.gov ist bei der nationalen US-Gesundheitsbehörde NIH angesiedelt und unterliegt somit staatlichen Vorgaben.

Auch Publikationsdatenbanken für zahlreiche andere Wissenschaftsbereiche, von der Klimaforschung über Chemie bis hin zu Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind womöglich von der neuen Sprachpolizei betroffen; der Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda  hat dazu auf Bluesky Stimmen aus verschiedenen Disziplinen gesammelt. Oft dominieren in anderen Wissenschaftsbereichen jedoch private kommerzielle Anbieter den Markt der Fachverzeichnisse – etwa das „Web of Science“ der (zum Teil allerdings ebenfalls in den USA ansässigen) Firma Clarivate Analytics oder „Scopus“, das zum Elsevier-Verlag mit Hauptsitz in Amsterdam gehört. Anders in der medizinischen Forschung: Hier verzeichnet www.pubmed.gov das gesammelte wissenschaftliche Studienwissen und stellt es auch anderen, interdisziplinären Datenbanken zur Verfügung. Mehr noch: Anders als die meisten anderen Verzeichnisse ist PubMed bereits seit 1996 kostenlos zugänglich – und somit eine wichtige Informationsquelle nicht nur für Forschende, sondern auch für Ärztinnen und Ärzte, für Betroffene sowie Medizinjournalistinnen und -journalisten. Die Qualität dessen, was man in guten Arztpraxen und in den Medien über Gesundheit erfährt, hängt derzeit auch vom Zugang zu dieser Informationsquelle ab. Nicht umsonst heißt es in der Selbstbeschreibung, man habe das „Ziel, die Gesundheit zu verbessern – sowohl generell als auch persönlich“. Noch.

Einrichtungen wie die Cochrane Deutschland Stiftung, die solche Datenbanken für die systematische Zusammenfassung des aktuellen medizinischen Wissens aus verschiedenen Studien nutzen, denken daher schon intensiv über mögliche Alternativen nach. Eine Möglichkeit wäre es, „Open Science“ in Europa weiter zu stärken, also wissenschaftliche Forschungsergebnisse unabhängiger von Verlagen frei nutzbar zu machen. Das allerdings kann dauern. Bis dahin bleibt womöglich nichts anderes übrig, als die Entwicklung aufmerksam zu beobachten: Gestern Abend meldete die Datenbank pubmed zum Stichwort „diversity“ rund 820 500 Treffer; am Tag danach war die Zahl noch konstant oder sogar leicht gestiegen – jedenfalls bis vor dem Zähneputzen.


Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.