Ein Longread von Julika Griem
Keplerstraße 2 beginnt und endet als eine Liebeserklärung: Am Anfang „erfahren“ die Autoren die Topografie der Universitäts-Architektur rund um das Tübinger SFB-Gebäude; am Schluss radeln sie zurück, um einen wehmütigen Blick auf die Spuren ihrer Arbeit und einige letzte Mohikaner:innen mit Restfinanzierung zu werfen. Innerhalb dieses Rahmens liefern Frie und Nieswand eine Erfolgsgeschichte in Zahlen: Bestnoten in der Begehung im Januar 2011, 3 Förderphasen mit der Maximalförderdauer von 12 Jahren, mindestens 12 beteiligte Disziplinen, 64 beantragte und 58 bewilligte Teilprojekte mit einer insgesamt dreistelligen Zahl von Beschäftigten, 9 publizierte Dissertationen, 10 publizierte Sammelbände, eine virtuelle Ausstellung mit Grimme-Preis-Nominierung.
Unter Vermarktungsdruck hätte es nahegelegen, Liebeserklärung und Erfolgsgeschichte zu einer Standortwerbung für schwäbische Exzellenz zu verschmelzen. Frie und Nieswand liefern stattdessen eine Nabelschau, die Buzzwords, Redundanzen und Storytelling vermeidet und dank einer gelungenen Modulierung von Nähe und Distanz auch Nicht-Tübinger:innen zu packen vermag. Ihr schlankes und sorgfältiges Buch widmet sich weniger den Inhalten des SFB als den epistemischen, sozialen, institutionellen und materiellen Bedingungen, unter denen zwischen 2011 und 2023 das Thema der „bedrohten Ordnungen“ bearbeitet wurde. Als Grundlage einer dichten Beschreibung geistes- und sozialwissenschaftlicher Verbundpraxis dienen leitfadengestützte Interviews mit Kolleg:innen sowie Gedächtnisprotokolle, Terminkalender und die Mitschriften von Veranstaltungen auf dem Server des SFB.
Keplerstraße 2 überzeugt dort, wo Differenzierungen gewonnen und Ambivalenzen nicht umschifft werden. O-Töne aus den Interviews veranschaulichen, wie Teilprojektleitende mit „Fliehkräften“ (S. 125) umzugehen hatten und der SFB für Promovierende tendenziell als „Schutzraum“, für Postdocs eher als „Unsicherheitsraum“ wahrgenommen wurde (S. 117). Gleichzeitig wird nicht verschwiegen, dass die Promovierenden an den Übergängen zur nächsten Förderperiode Zeitdruck und ungewisse Aussichten verarbeiten mussten. Nachdem sich die Gruppe dem Mantra einer kompetitiven Auswahl pragmatisch gestellt hatte, wird dies nicht euphemistisch verbrämt: „In einer wettbewerbsorientierten Wissenschaft, in der nur Erfolge zählen, gibt es wenig Raum für Verlierer, auch weil die Aussicht, sich mit empathisch gebärdenden Gewinnern zu umgeben, für sie nur mäßig attraktiv ist.“ (S. 72) Frie und Nieswand beschreiben grundsätzliche Dilemmata in konkreten Situationen wie den Kolloquien: „Der Zweifel daran, ob dem Versprechen einer Gleichrangigkeit der Ungleichrangigen wirklich zu trauen ist, gehört genauso zum akademischen Diskurs wie das Versprechen selbst“ (S. 103). Es wird erwähnt, dass insbesondere die Jüngeren früh lernen (müssen), sich „zu verkaufen“ (S. 107), während man gleichzeitig in den Geistes- und auch den Sozialwissenschaften eine ironische „Skepsis gegenüber großspurigen Selbstdarstellungen und der Vermessung von individueller Leistungsfähigkeit“ kultiviert. Diese Skepsis diene „nicht zuletzt dem Zweck, die erfahrene Macht von Vergleichbarkeit und Wettbewerb über das eigene Leben auf Distanz zu halten“ (S. 109).
Die Selbstbeschreibung als „widerständiges kleines gallisches Dorf“ (S. 159) prägte intern die „Identitätsarbeit“ sicherlich nicht nur des Tübinger SFB 923. Zudem zeigen die Autoren Nuancen der Identitätsarbeit zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften auf: Treffend wird beschrieben, wie individualistischer und kooperativer Habitus, exegetische Passion und Theoriefreude, die Sorge um den Einzelfall und die Leidenschaft für Typisierung immer wieder aufeinanderstießen – aber in Einzelfällen auch überraschend neue Koalitionen gebildet haben. In diesen Passagen vermittelt sich der Aufwand wissenschaftsinterner Kommunikation – und dies in einem Fall „kleiner“ Interdisziplinarität. Wie viel Geduld und Hartnäckigkeit vonnöten sind, um schon in solchen Konstellationen Konzepte, Methoden und Theorien „reisefähig“ (S. 30) zu machen, lässt sich im großinterdisziplinären Begutachtungsgeschäft der DFG längst nicht immer überzeugend darstellen.
Mit ihrer Erklärung, warum es beim Tübinger SFB geklappt hat, riskieren Frie und Nieswand auch blinde Flecken. So folgte das Leitungsgremium der „Alltagstheorie“, nach der eine starke Fachfraktion innerhalb der Begutachtungsgruppe das Risiko des Scheiterns minimiere, während sich mit disziplinärer Heterogenität Kritikpunkte vermehrten (S. 126). Die Reproduktion solcher Erfahrungswerte führt vermutlich immer noch dazu, dass Beantragende eine stärkere Interdisziplinarität als Risiko einschätzen, obwohl die DFG sie gern offiziell ermutigt. In Tübingen wurde man für ein konservatives Vorgehen belohnt: Von 27 an der Leitung von Teilprojekten Beteiligten stammten insgesamt 19 aus den Geschichtswissenschaften. Diese Dominanz könnte auch Ursache für ein Binnenverhältnis sein, das nicht befriedigend reflektiert wird: Für die dritte Begehung im Jahr 2019 spielte die Repräsentanz von Frauen offenbar immer noch eine Rolle und wurde „intern kontrovers diskutiert“ (S. 62). Dazu erfahren wir aber nichts Genaueres. Später wird aus einer „Managementperspektive“ angemerkt, ein Defizit bei den Gleichstellungsbemühungen werde als „Mangel an Professionalität“ ausgelegt. Aus Fries Protokollnotiz geht hervor, dass sein Gespräch mit der DFG-Referentin durch das „Hilfsargument“ eines Verweises auf die zweite Förderphase ausreichend guten Willen bewiesen habe (S. 127). Weitere Ausführungen legen nahe, dass hier die Rolle der Geschichtswissenschaft gerade nicht überdacht wird: So messen die Autoren das Verhältnis von 21 Männern zu 7 Frauen auf der Projektleitungsebene allein am universitären Durchschnitt in Tübingen, der durch noch schlechtere Verhältnisse in anderen Fächern bestimmt war. Hätte man vergleichend auf weitere Geisteswissenschaften geschaut, wäre die Bilanz vermutlich negativer ausgefallen. Selbstkritische Distanz zum Fach des Sprechers Frie scheint im Text des Buches dagegen eher in einem Abschnitt zur narrativen Binnenkommunikation des Verbundes auf. Hier wird die identitätsstiftende Legendenbildung für verschiedene Gruppen im SFB erläutert. Als von Historiker:innen gern heraufbeschworene Figur fungiert der „unversöhnliche Gutachter“ (S. 73), der als Schurke in einer schaurigen Welt jenseits des eigenen Faches lauert – weswegen die Geschichtswissenschaft im Zentrum stehen sollte (S. 74). Dies bildet sich auch im Titel des Buches ab – hier ist von „Innenansichten geisteswissenschaftlicher“ und damit nicht sozialwissenschaftlicher Forschung die Rede.
Insgesamt kann gefragt werden, ob Keplerstraße 2 als Gebrauchsanweisung für SFBs taugt. Als Ratgeber ist das Buch nicht geschrieben. Auch beim sparsam behandelten Thema „Outreach“ ergibt sich wenig Übertragbares zur mittlerweile hochgehängten Außenkommunikation von SFBs – obwohl bereits im Erstantrag angekündigt wurde, dass die geplante Forschung ihre Instrumente „im Dialog mit den Bedrohungsnarrativen und Krisendiagnostiken des Alltags“ entwickeln müsse (S. 149). Beflügelt wurde die Öffentlichkeitsarbeit des Tübinger Verbunds durch die sich verschärfenden Flüchtlingskrisen während seiner Laufzeit, die eine lebhafte Nachfrage nach anwendbaren Ergebnissen erzeugten. Wie diese Nachfrage aber zu befriedigen ist, vernachlässigt Fries und Nieswands an sich praxisinteressiertes Buch – wir erfahren lediglich, dass man zu Beginn nach einem kommunizierbaren „catchword“ für den Titel des Verbunds suchte und dass einigen jüngeren Kolleg:innen die Zusammenarbeit mit einer Agentur zur Gestaltung der Ausstellung Freude bereitet habe. Als Projekt übersetzender Wissenschaftskommunikation heben die Verfasser die gemeinsame Schreibarbeit an einem „auflagenstarken Sammelband“ beim „Publikumsverlag Propyläen“ hervor (S. 151).
Die Passagen zur Binnenkommunikation sind instruktiver. Hier wird ein Führungsstil empfohlen, der bewusst unmodischen Leitbegriffen wie „Kollegialität“, „Solidarität“ und „Humor“ folgt (S. 78). Im bilanzierenden Teil bekennen sich die Autoren zu einer strategischen Schizophrenie, die „Unschärfe bei der Zieldarlegung und ein gewisses Maß an Toleranz für die Doppelbödigkeit von Außendarstellung und Innenansicht“ ermöglicht (S. 158–159). Als Organisations- und Kommunikationsprinzip dieses SFBs schält sich damit ein Manövrieren zwischen Gemeinsinn und Eigensinn heraus (S. 142), das Zielorientierung und Offenheit zu vermitteln versucht und die Freiheit verteidigt, die Vorgaben der DFG nicht zum „Korsett“ werden zu lassen (S. 132). Es leuchtet ein, warum der erste Sprecher Frie in der Lage war, den SFB 923 als „Möglichkeitsraum“ zu gestalten: Er bildete mit anderen jüngeren und neu Berufenen eine Personalkonstellation, deren Pläne nach dem Scheitern der Tübinger Exzellenz-Bewerbung 2006 eine passende „Geschichte“ für die New-Public-Management-Reform des gerade angetretenen Rektors Bernd Engler lieferten (S. 38). Ein solches „Möglichkeitsfenster“ lässt sich nicht erzwingen, sondern nur nutzen (S. 33, 37).
Sucht man nicht nur nach expliziten Handlungsanleitungen, lässt sich auch Nieswands und Fries Buch selbst als gelungene Wissenschaftskommunikation betrachten, weil es den Autoren gelingt, komplexe institutionelle Phänomene wie die Entwicklung des SFB-Formats und ihre Begutachtung kompakt und anschaulich zu beschreiben. Fries konzeptionelle und stilistische Souveränität (er gewann 2023 den Deutschen Sachbuch-Preis) ist nicht nur in der Methode der Interviews, sondern auch in Metaphern wie „Verfahrensnebel“, in der Charakterisierung eines Modells als sich selbst auflösender „schwäbischer Müllbeutel“ und in jenem trockenen Klartext zu erkennen, mit dem auch „Machtgerangel“ und die Angst vor Kontrollverlust benannt werden. Ob sich die „Handschrift“ des Sozialwissenschaftlers Nieswand z. B. in der Typologie von Promovierenden als Nutzern, Optimierern, Spielern, Reisenden und produktiv Scheiternden niederschlägt, kann nur vermutet werden, denn leider beziehen die Verfasser ihre Beobachtungen zum Zusammen- und Widerspiel von Geistes- und Sozialwissenschaften nicht auf ihre eigene kollaborative Autorschaft und deren interdisziplinäre Dynamik.
Diesen blinden Fleck teilen sie mit Steffen Martus‘ und Carlos Spoerhases Buch Geistesarbeit (2022), wie auch einen Modus pragmatisch abgerüsteter Praxeologie. Während die beiden Germanisten allerdings ihre historische Perspektive nutzen, um nicht nur geisteswissenschaftliche Krisenrhetorik, sondern auch Kritik abzumoderieren, nehmen sich die Verfasser von Keplerstraße 2 eine „selbstkritische und distanzierte, aber auch neugierige Haltung“ vor (S. 24). Mit dieser kitzeln sie gerade in den Alltagsbeschreibungen viele aufschlussreiche Selbstwidersprüche heraus und nehmen auch Stellung zur Problematik befristeter Arbeitsverträge (S. 119ff.). Überraschend wenig Interesse entwickeln sie allerdings am namenlos bleibenden „Wissenschaftler auf Zeit“ (S. 32), der in der frühen Gärungsphase des SFB eingestellt wurde, um mit einem tiefgehenden Forschungsbericht eine entscheidende Grundlage für die Weiterentwicklung des Verbunds zu liefern.
Frie und Nieswand stellen sich der auch stilistisch schwierigen Aufgabe einer Vermittlung von Erleben und Analyse. Ihr Buch gibt den Leser:innen erfreulich viel zu tun, weil Fragen offenbleiben – sind z. B. die Publikationen zu Aspekten bedrohter Ordnung „trotz oder wegen des SFB entstanden“? (S. 136)
Keplerstraße 2 gibt zwischen seinen Zeilen zu denken – nicht zuletzt dazu, ob auch ein SFB, die Geisteswissenschaften oder das uns bekannte Wissenschaftssystem als eine bedrohte Ordnung erfahren werden kann, die jeweils ihre eigene Krisenkommunikation produziert. Ob man daraus Systemkritik ableiten möchte, bleibt unseren Lektüren und weiterer Forschung überlassen. Diese könnte den Tübinger SFB 923 zu anderen in Beziehung setzen und auch Fälle des Scheiterns untersuchen, z. B. den Fall des nicht mehr weiter geförderten SFB „Praktiken des Vergleichens“ in Bielefeld. Und sollte diese unbedingt im Zusammenhang der ExIni und ExStra kontextualisieren; nicht nur mit einem Blick auf Fälle wie Freiburg und Göttingen. Nieswand und Frie erwähnen diesen Kontext als glückliche Fügung ihres erfolgreichen Möglichkeitsraums. Sie schweigen allerdings zu den Fliehkräften, die sich längst zwischen den Formaten SFB und Cluster entwickelt haben – auch hier geht es um Fiktionen von Planbarkeit, Meritokratie und Akzeptanz unter Bedingungen eines symbolisch überdeterminierten Wettbewerbs. Wer diese und viele andere durch Keplerstraße 2 angeregte Denkanstöße weiterverfolgt, wird vermutlich wieder auf Kollisionen zwischen der Liebe zum Einzelfall und der Lust an der Typisierung stoßen. Diese Prägungen reiben sich zwar, wie Frie und Nieswand so lesenswert zeigen, müssen sich aber nicht kategorisch im Weg stehen.