Von Holger Wormer
Fast alle meldeten sie sich zu Wort nach den denkwürdigen Abstimmungen mit einer in Teilen als gesichert rechtsextrem geltenden Partei im Deutschen Bundestag: die Kirchen, eine bekannte Altkanzlerin und weitere Persönlichkeiten des „öffentlichen Lebens“ – sowie in der Folge Hunderttausende auf der Straße. Nur wo war die Wissenschaft bis Ende Januar 2025 mit ihren zahlreichen Institutionen?
Immerhin, wer sich etwas länger auf die Suche macht nach klaren Aussagen der großen Forschungsorganisationen zur Sicherung demokratischer Grundwerte, findet zumindest das eine oder andere zaghafte offizielle Statement, etwa seitens der Allianz der Wissenschaftsorganisationen oder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) – abgesehen vom jüngst verkündeten Ausstieg bei X (ehemals Twitter) allerdings zuletzt vor fast genau einem Jahr, so als wäre seitdem nichts passiert. Seitdem herrscht meist Schweigen, sei es aus Gleichgültigkeit, aus Ideenlosigkeit oder bloßem Opportunismus.
Man kann darüber streiten, in welchem Umfang der Wissenschaft (ebenso wie Einrichtungen der Kultur) in einer Demokratie analog zum Journalismus auch eine Rolle von Kritik und Kontrolle, von Checks and Balances zukommen sollte, quasi als eine Art fünfte Gewalt im Staat. Fest steht aber, dass Autokraten und andere Demokratiefeinde das freie Denken in Universitäten und Kultureinrichtungen mitunter ebenso fürchten und bekämpfen wie professionelle journalistische Medien mit einer freien Presse, der im System der Gewaltenteilung in einer Demokratie nicht umsonst die Rolle der „Vierten Gewalt“ zugeschrieben wird.
Anders als die Obrigkeiten der Kirchen mögen sich die zahllosen Forschungsfunktionäre und -kommunikatoren in ihren Allianzen und Akademien, in ihren Gemeinschaften und Gesellschaften vielleicht nicht dazu durchringen, zur Wahl einzelner Parteien zu raten (und von anderen abzuraten). Aber sie müssten mit mehr Nachdruck an die Wahrung demokratischer Grundwerte und -Prinzipien erinnern, auf denen auch ihre eigene (Forschungs-)Freiheit fußt. Gerne verweist man bei den Akademien oder der DFG in anderen Fällen auf Aufgaben wie „Politikberatung“ oder „Dialog“ mit Gesellschaft und Politik – wobei allerdings nirgendwo in den Satzungen dieser Einrichtungen festgehalten ist, dass Politikberatung und Dialog nicht auch ungefragt (und notfalls auch lautstark) erlaubt sein sollte.
Notwendig wären dabei nicht nur Lippenbekenntnisse, einmal pro Jahr eine Stellungnahme, ein zahmer Artikel in der ZEIT oder ein vorsichtiger Bürgerdialog auf einem Marktplatz. Vielmehr gilt es auch, die verschiedenen Einrichtungen der Wissenschaft gemeinsam zu mobilisieren. Dazu gehört es im Sinne einer pro-aktiven Wissenschaftskommunikation, sich eigeninitiativ zu Wort zu melden, wenn die nächste gezielte politische Falschinformation den demokratischen Meinungsbildungsprozess verseucht.
Gutes Beispiele einzelner Institutionen gibt es, etwa wenn das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung durchrechnet, von welchen Parteien Spitzenverdiener am meisten profitieren würden oder das private Institut der deutschen Wirtschaft feststellt, dass die Klimaschutzpolitik dem Standort Deutschland eher hilft als schadet. Etwas älter, aber ebenfalls hilfreich für die politische Debatte ist auch eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dass die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wohl die eigenen Wähler wären.
Mit der Kommunikation der wahrscheinlichen Folgen bestimmter Maßnahmen der Migrationspolitik, der Energie- oder Verteidigungspolitik sowie zu anderen politisch kontroversen Themen (so fördert etwa die DFG bereits seit 2018 ein Projekt zur „populistischen Herausforderung in den Parlamenten“) sollten Forschungseinrichtungen mit entsprechender Expertise jedenfalls nicht warten, bis endlich mal eine journalistische Redaktion anfragt. Wenn es um viel geht, darf man seine Expertise auch ungefragt und laut in Politik und Medien tragen. Andernfalls laufen Forschende und Forschungsorganisationen Gefahr, erst wieder von Historikerkollegen in der Zukunft gehört zu werden – mit der unbequemen Frage: „Und wo sind Sie eigentlich damals gewesen?“