Das Thermostat der Fakten – Ein Panel über die Krise der Faktizität

Auf der „WissensWerte“ in Bremen diskutierten die RRC-Mitglieder David Kaldewey und Laura Morris zusammen mit Simone Rödder über die Krise der Faktizität – den gedanklichen Ausgangspunkt des Rhine Ruhr Centers.

David Kaldewey eröffnete das Panel passend zur aktuellen Lage mit einer Energiemetapher: „Wenn uns kalt ist, neigen wir dazu, die Heizung auf fünf zu drehen. Wir denken, der Raum wird schnell warm. Wir übersteuern und sehr schnell ist uns zu warm. Wer aber versteht, wie das Thermostat funktioniert, der stellt die Heizung von vorneherein auf drei.“ Die Heizung stehe in diesem Fall für das Wissenschaftssystem. Die Skala auf dem Regler sei nicht mit Zahlen beschriftet, sondern mit den Worten Unwahrheiten und Wahrheit. Dabei liege die faktenbasierte Wahrheit auf der Drei.


Aber was ist das eigentlich, faktenbasiert? Ist es legitim „alternative“ Fakten, als Fakten zu betiteln und wie unterscheidet man klare, unsichere und alternativen Fakten? In einem Panel von eineinhalb Stunden Dauer konnten diese Fragen lediglich angeschnitten werden. Primär ging es darum, den versammelten Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten den Begriff der „Krise der Faktizität“ als Grundlage näherzubringen. Dazu erklärte David Kaldewey, dass die Endkontextualisierung des Faktenbegriffs einen großen Teil der Vertrauensdebatte, die mit der Krise einhergeht, ausmache. Kurz gefragt: Wie soll man auch erkennen, was faktisch richtig ist, wenn man sich nicht selbst mit den Primärquellen auskennt?


Für die metaphorische Heizung bedeute das: Steht der Regler auf drei, werden die Fakten medial, nach aktuellem Stand und Konsens der Forschenden, bestmöglich eingeordnet. „Man sagt beispielsweise nicht, die Impfungen machen impotent. Genauso wenig sagt man, dass sie nebenwirkungsfrei sind“, so Kaldewey.


Die Multidisziplinarität der Wissenschaft sorgt dabei allerdings für zusätzliche Herausforderungen: Alle Wissenschaften können Erkenntnisse liefern, aber müssen sie Handlungsempfehlungen an die Politik aussprechen, können diese je nach Perspektive sehr unterschiedlich ausfallen. Bei diesem Dilemma sollen die Geistes- und Sozialwissenschaften helfen und Krisen kontextualisieren. Allerdings sind eben diese Fachbereiche in der klassischen Wissenschaftsberichterstattung häufig unterrepräsentiert. Das liegt unter anderem daran, dass Expertise in diesen Feldern weniger quantitativ und weniger systematisch beurteilt werden kann als beispielsweise in den Life Sciences. Laura Morris stellte in ihrem Vortrag unter anderem vor, wie das RRC vorgeht, um Beurteilungskriterien für die Geistes- und Sozialwissenschaften zu erarbeiten, mit denen Journalist:innen in Zukunft Expertise besser recherchieren können.

Simone Rödder im Gespräch mit Laura Morris, David Kaldewey und Holger Wormer.

Anschließend stellte Simone Rödder in ihrem Vortrag die Methoden und Effekte der Kommunikation des Weltklimarats vor. Laut Rödder trage die Polarisierung der Debatte zur Krise der Faktizität bei. „Es heißt immer: die eine Wissenschaft. Es wird wenig differenziert.“ Dieses Muster sähe sie auch bei neuen Krisen, wie der Pandemie. Der hohe politische Entscheidungsdruck und Medien wie Twitter verstärken diesen Effekt, so Rödder. Sie ergänzte: „Letztlich muss deutlich werden, warum Expert:innen streiten und dass es zwar einen wissenschaftlichen Konsens gibt, aber nicht die eine Wahrheit.“


Nach der Fragerunde schloss das Panel mit einer These und einem Appell an die Geistes- und Sozialwissenschaften: Konkretisiert eure Forschungsergebnisse! Definiert beispielsweise soziale Kipppunkte. Denn dann hat der Wissenschaftsjournalismus eine Chance diese Felder in seine Berichterstattung einzuordnen, anstatt reinen Debatten zu folgen, die Krisen begleiten, aber keine Konsequenzen folgern.